Die Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Johanne Modder, äußert sich im vorwärts-Interview zur Debatte über die Pflegekammer Niedersachsen und erklärt, warum die Kammer aus ihrer Sicht trotz großer Startschwierigkeiten eine zweite Chance verdient hat.Vorwärts: Spätestens seit Dezember letzten Jahres gibt es eine ausgesprochen kontroverse Debatte über den Sinn und Zweck der niedersächsischen Pflegekammer – worum geht es?

Johanne Modder: Ich habe den Eindruck, dass sich am Anlass der Gebührenbescheide der Pflegekammer Niedersachsen der über die Jahre angestaute Frust der Pflegekräfte über die Situation in ihrem Berufsfeld entlädt. Das ist auch verständlich, denn auch wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind seit vielen Jahren in diesem Bereich unterwegs und müssen trotz aller Bemühungen feststellen, dass der Pflegenotstand längst Realität ist und sich die Situation nicht zum Besseren verändert hat.

Vorwärts: Wie sehen diese Bemühungen aus?

Modder: Unser Ziel war immer die Einführung eines flächendeckenden Tarifvertrags für die sozialen Berufe. Leider ist der Abschluss dieses Tarifvertrags insbesondere von VertreterInnen der Arbeitgeberseite verhindert worden. Im Jahr 2012 wurde noch unter der schwarz-gelben Landesregierung eine repräsentative Umfrage unter den Pflegekräften durchgeführt, in der sich 67 Prozent der Befragten für die Einrichtung einer Pflegekammer aussprachen. Im Jahr 2016 wurde die Kammer dann schließlich nach langem Ringen unter Rot-Grün ins Leben gerufen, damit die Pflegekräfte endlich eine starke Interessenvertretung erhalten.

Vorwärts: Warum braucht man dafür eine Kammer?

Modder: Die Pflegekräfte stellen mit rund 90.000 Personen allein in Niedersachsen die mit Abstand größte Berufsgruppe in unserem Gesundheitssystem. Bei Gesetzesänderungen und Entscheidungen, die sie direkt betreffen, saßen sie jedoch nie mit am Tisch – im Gegensatz beispielsweise zu den Ärztinnen und Ärzten, die in der Ärztekammer eine einflussreiche Interessenvertretung haben. Mit der Pflegekammer wollen wir auch den Pflegekräften eine starke Lobby geben.

Vorwärts: Warum müssen alle Pflegekräfte verpflichtend Mitglied in der Kammer sein?

Modder: Eine Interessenvertretung, die nur einen Bruchteil der Beschäftigten in diesem Bereich vertritt, hat kein Mandat, um auch wirklich für alle Pflegekräfte zu sprechen. Das sieht man ganz deutlich in Bayern, wo lediglich rund 1.000 von mehr als 180.000 Pflegekräften auf freiwilliger Basis Mitglied in einem sogenannten ‚Pflegering‘ sind. Eine Kammer hingegen ist schon rechtlich durch die Pflichtmitgliedschaft definiert. Dadurch ist aber auch sichergestellt, dass sie das nötige Gewicht hat, um den Beschäftigten in der Branche eine starke Stimme zu geben. Das wird im Übrigen auch in anderen Bundesländern so gesehen: Das schwarz-gelb regierte NRW macht sich gerade auf Weg zur Gründung einer Kammer und auch der Bundesgesundheitsminister erwägt eine Gründung auf Bundesebene.

Vorwärts: Viele Pflegekräfte reagieren mit Unverständnis und Frust auf die Beitragsbescheide der Pflegekammer Niedersachsen, die im Dezember 2018 verschickt wurden…

Modder: …und auch das ist nur zu gut verständlich! Die Art und Weise, wie diese Bescheide gestaltet und formuliert waren, hat zu einem großen Vertrauensverlust in die Kammer geführt – das wissen wir. Die Präsidentin der Kammer hat sich jedoch mehrfach öffentlich für diesen schweren Fehler entschuldigt und innerhalb kürzester Zeit eine Änderung der Beitragsordnung durchgesetzt. Durch die neue Beitragsordnung zahlen viele Pflegekräfte gar keinen Beitrag mehr, und die pauschale Forderung nach dem Höchstbeitrag wurde ebenfalls gestrichen – stattdessen gruppieren sich die Pflegekräfte nun selbst ein.

Vorwärts: Dennoch gibt es weiter Proteste gegen die Pflegekammer…

Modder: Die Kammer hat einen denkbar schlechten Start hingelegt und den kann man auch nicht rückgängig machen. Aus unserer Sicht muss sie nun schleunigst zeigen und beweisen, dass sie für die Pflegekräfte etwas erreichen kann und einen Mehrwert darstellt. Die Kammer muss jetzt liefern. Nur so kann sie Vertrauen zurückgewinnen und die Akzeptanz der Pflegekräfte erlangen. Wir sind bereit, der Pflegekammer diese Chance zu geben. Im Übrigen sieht der Koalitionsvertrag für Niedersachsen vor, die Kammer zur Hälfte der Wahlperiode, also im nächsten Jahr, einer Evaluation zu unterziehen. Bis dahin sollten wir die Verantwortlichen allerdings ihre Arbeit machen lassen.

Vorwärts: Was wäre denn die Alternative zu einer Pflegekammer?

Das ist genau das, was mich an einer bestimmten Art der Pauschalkritik stört: Wer die Pflegekammer jetzt in Frage stellt, hat damit absolut nichts für die Pflegekräfte und die zu Pflegenden in unserem Land erreicht. Ich kann und werde aber nicht akzeptieren, dass die Politik zu diesem so wichtigen Thema sagen muss: ‚Wir haben es versucht, aber wir konnten nichts für euch erreichen.‘

Das Interview im Niedersachsen Vorwärts

Häufig gestellte Fragen zur Pflegekammer